Die Zeit - Jetzt muss sich Europa der Türkei zuwenden - Hoofdinhoud
Die Türken wollen Veränderung. Die EU sollte die Beitrittsverhandlungen neu beleben und die Demokratisierung fördern, schreibt die Türkei-Beauftragte des EU-Parlaments.
Anhänger der kurdischen HDP in Diyarbakır feiern den Erfolg bei der türkischen Parlamentswahl. | © Sedat Suna/dpa
Das Ergebnis der türkischen Parlamentswahl am vergangenen Sonntag ist ein klares Indiz für ein Streben nach Veränderung. Die regierende AKP musste ihre größten Verluste in zwölf Jahren hinnehmen. Die HDP, die die kurdischen Wähler repräsentiert, aber mehr und mehr auch von progressiven Türken unterstützt wird, schaffte es über die unglaublich hohe Zehnprozenthürde in das Parlament der Türkei. Das Resultat macht die weitere Zentralisierung der Macht durch Präsident Erdoğan zunichte, bringt den nachhaltigen und friedlichen Abschluss des Friedensprozesses mit den Kurden wieder an die Spitze der politischen Agenda und zwingt die politischen Parteien, zu kooperieren und Kompromisse einzugehen. Mit einer Rekord-Wahlbeteiligung von 86 Prozent hat das Volk darüber hinaus das inklusivste und repräsentativste Parlament in der modernen Geschichte der Türkei gewählt. All das sind positive Elemente, die eine neue Regierung befähigen könnten, den Demokratisierungsprozess und den Reformdialog mit der EU neu zu beleben.
Kati Piri ist seit 2014 Abgeordnete im Europaparlament. Die niederländische Sozialdemokratin ist dort unter anderem Türkei-Berichterstatterin und hat in dieser Funktion auch den Wahlkampf in der Türkei begleitet.
Während eines Arbeitsbesuchs in der heißen Phase des Wahlkampfs entwarfen meine politischen Gesprächspartner ausgiebig die möglichen Szenarien. Die AKP hatte beschlossen, ihren Wahlkampf massiv gegen die prokurdische HDP zu betreiben, weil sie die größte Gefahr darstellten: Sie konnten am ehesten Präsident Erdoğans Chancen eindämmen, das Parlament zu kontrollieren. Rückblickend ging diese Strategie für die regierende Partei nach hinten los, weil sie den charismatischen Führer der HDP, Selahattin Demirtaş, zum einzigen machte, der die Ambitionen Präsident Erdoğans blockieren konnte, ein präsidenzielles System zu errichten. Der Präsident selbst hatte ebenfalls sehr aktiv versucht, die Wähler zu überzeugen, ihn dabei zu unterstützen. Das ist ihm allerdings nicht gelungen.
Viele politische Kommentatoren haben den türkischen Präsidenten und seine autoritären Tendenzen in den vergangenen Jahren - richtigerweise oder nicht - mit Präsident Putin verglichen. Aber eines muss klar sein nach der Abstimmung am Sonntag, nämlich, dass die Türkei in keiner Weise mit Russland verglichen werden kann. Während Präsident Erdoğan zu Beginn des Wahlkampfs das ambitionierte Ziel ausgegeben hatte, 400 von 550 Parlamentssitzen zu gewinnen, blieben der AKP am Ende 258, die HDP kommt mit 80 Abgeordneten ins Parlament. Bei allen Fragezeichen, die wir mit Blick auf die Qualität des politischen Systems der Türkei haben - und gerade in dieser Woche wird das Europaparlament meinen ziemlich kritischen Bericht über das Land verabschieden - hat eine sehr einfache Regel der Demokratie perfekt funktioniert: Die Institutionen bleiben, doch wer sie besetzt, hängt vom Willen der Wähler ab. Die Türkei ist keine “gelenkte” Demokratie, die nur von einer Partei dominiert wird, und sie ist so viel mehr als nur eine Person. Dass der Wahltag als solcher ohne größere Vorfälle ablief und dass sie von Zehntausenden zivilen Beobachtern überwacht wurden, war auch Ausdruck demokratischer Belastbarkeit.
Die EU sollte Maßstab für den Reformprozess bleiben
Es ist nicht klar, wohin die Türkei sich nun entwickeln wird. Nach einer langen Periode der Einparteienherrschaft ist sie in eine Phase der Unsicherheit eingetreten. Eine Koalition muss gebildet werden, oder es wird schon bald Neuwahlen geben. Ich hoffe, dass die politischen Parteien ihre Bereitschaft zeigen werden, zu kooperieren und ihre Differenzen zu überwinden, um eine inklusive und stabile Regierung zu bilden. Allerdings können wir von außen die politische Dynamik in der Türkei nicht einschätzen. Was wir aber tun können, ist positive Signale zu senden und Unterstützung anzubieten, die EU wie auch das Europaparlament. Jetzt ist nicht die Zeit, sich von der Türkei abzuwenden, auch wenn das in jüngster Zeit die “natürliche” Neigung vieler europäischer Politiker geworden ist.
Wenn wir - wie ich - von einer neuen Regierung wollen, dass sie in mehr demokratische Reformen und in den Friedensprozess mit der kurdischen Gemeinschaft investiert, sollte die EU etwas tun, um die halb ausgesetzten Beitrittsverhandlungen zu beleben. Sie sollte anbieten, jene Verhandlungskapitel zu öffnen, in denen es um wesentliche Themen wie Grundrechte, Justiz und Minderheiten geht. Die EU würde so ein permanentes Forum schaffen, um in diesen wesentlichen Gebieten Fortschritte zu machen. Unabhängig davon, wie man zu einer möglichen türkischen EU-Mitgliedschaft steht, ist es eindeutig im Interesse der EU und der türkischen Bürger, dass der Demokratisierungsprozess in der Türkei weitergeht und dass die EU der Maßstab für diesen Reformprozess bleibt. Es ist meine Absicht, im Europaparlament einen Konsens in dieser Frage zu erreichen und zu erhalten.
Die Debatte über die Türkei ist kompliziert, das wird sich nicht plötzlich ändern. Wir müssen wachsam bleiben, was die Achtung fundamentaler Freiheiten und die Rechtsstaatlichkeit in der Türkei angeht. Der Bericht des Europaparlaments über die Türkei wird diese Sorgen auch klar ansprechen. Aber ich kann meine Freude darüber nicht verhehlen, dass die Abstimmung im Europaparlament in dieser Woche dank der Wahl vom vergangenen Sonntag - diesmal - in einer positiveren Atmosphäre stattfinden wird.
Aus dem Englischen von Carsten Luther
http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-06/tuerkei-parlamentswahl-akp-hdp